Attac «inspiziert» das Europa-Parlament:
Per Schulterschluss in die Karten geguckt?
Attacis (15), suchen: Zivilisten-Eingang ins Europa-Parlament.
Die Aufforderung zur öffentlich-reinigenden Inspektion kommt per freundlicher E-Mail, mit wenig Vorlaufzeit und über die Liste der EU-AG. Das läuft meistens so bei Attac: eine Nachricht geistert durch die Reihen, dann passiert etwas Konkretes und man muss sich schnell entscheiden: klinke ich mich ein? Hier fragt also nun Sven Giegold, Mitbegründer und eines der langjährigen Zugpferde von Attac Deutschland, ob man ihn in jenen EP-Ausschüssen, von deren Arbeit er im Sommer bei einer Veranstaltung der Berliner EU-AG begeistert berichtet hatte, besuchen wolle. Zwei Wochen später stehen 15 Attacis aus den verschiedensten Winkeln Deutschlands im herbstlichen Brüssel – wir wollen.
Nun hat Attac den Kontakt und Austausch zu Parlamenten stets gesucht, und dies ebenso wenig verschleiert, wie die funktionale Auffassung dieser Beziehung. Schon 2001, wenige Jahre nach der Gründung in Frankreich, wurde im EP das sogenannte „coordinative comittee“ von MEPs gegründet, die die Kernforderung nach der Tobin Tax dort vertreten wollten; ebenso ist bekannt, dass zahlreiche MdBs Attac-Mitglieder sind. Nichtsdestotrotz betreten bei diesem Besuch Ende Oktober 2010 die Mehrzahl der Beteiligten Neuland.
Denn einerseits haben sich die Personen, und mit ihnen die Schnittstelle zum EP geändert – mittlerweile sind sowohl Attacis, als auch Akteure anderer zivil-gesellschaftlicher Organisationen zur Arbeit gezielt dorthin gegangen. Möglich gemacht hat dies vor allem die grüne Fraktion: deren deutsche Partei nutzte die Katerstimmung nach 7 Jahren Rot-Grün 2008 sinnvoll, suchte die Nähe zum zivil-gesellschaftlichen Sektor und fand, unter anderem: Barbara Lochbihler von Amnesty International Deutschland, Gerald Häfner, Gründer von Mehr Demokratie, und eben Sven Giegold. Mit diesen dreien werden wir uns austauschen.
Andererseits ist die Enttäuschung über jene Richtung, die die EU wirtschaftspolitisch intern wie extern seit dem Vertrag von Lissabon verfolgt, innerhalb von Attac auch für Neulinge wie mich praktisch mit Händen zu greifen. Und die Wut darüber, dass die Mitgliedsstaaten und Ihre gewählten Vertreter mit dem viel zitierten demokratischen Defizit einiges tun, vor allem es öffentlich….weiterhin zitieren, und angebliche Errungenschaften des besagten Vertrages als Gegenmittel darstellen. Aber tatsächliche Abhilfen, wie die Europäische Bürgerinitiative, blockieren, wo und so lange es nur geht.
Ausschuss (50 MEPs), in bester Form, sucht: anspruchsvolle Aufgabe für länger.
Zum Auftakt, am Montag Abend, sind wir zunächst bei einem weiteren Non-Profit Akteur zu Gast: bei Corporate Europe Observatory wird exakt umrissen, wie die europäische Finanzindustrie aufgestellt ist, mit welchen Mitteln ausgestattet – und auch, wo genau die Vertreter sich in Brüssel befinden. Tendenz: immer schön in Laufweite der Kommission, so dass jeder Austausch zu Fuß machbar ist. Umweltfreundlich, immerhin – und zum Glück, denn alleine die Zahl dieser Vertreter ist, selbst für linke Pessimisten, einfach haarsträubend. Wasser auf Svens Mühlen, der sich seit Monaten bemüht, medial die Notwendigkeit einer Bürgerlobby als Gegengewicht zu artikulieren.
Bei aller Expertise sehen sich zivil-gesellschaftliche Organisationen bezüglich des Einwirkens auf die Kommission schlicht einer privaten Übermacht gegenüber. Umso gespannter sind wir auf den ersten Besuch im EP – zumal dessen Entscheidungsmacht bei Gesetzgebungsverfahren im Zuge des Lissabon-Vertrages ausgebaut worden ist. Am nächsten Morgen treffen wir Svens derzeitigen Praktikanten, Leon, vor dem Haupteingang. Kleine Führung durch die Gänge und einige interessante Anekdoten später landen wir im ECON-Ausschuss.
Bei der Begrüßung durch Sven weißt dieser auch prompt darauf hin, mit wem wir uns die hinteren Ränge teilen werden: Referenten, einige Journalisten – und frisch Graduierten, die sich in eben dieser örtlichen Finanzindustrie verdingen – teils mit Absätzen, die an ganz neue Formen horizontaler Integration in Brüssel denken lassen, teils mit Block, Bleistift und Berichterstattung. Das Thema des Morgens ist die makro-ökonomische Struktur der EU und des Euro-Raums, genauer: die haushaltspolitische Überwachung und die Schaffung einer Finanzmarkt-Überwachungsagentur. Um den abschließenden Eindruck vorweg zu nehmen: in der Tat bietet sich dem Zaungast der Eindruck, es hier eher mit einer homogenen Gruppe zu tun zu haben, als im von Fraktionsdisziplin inhaltlich zumeist gelähmten Bundestag – allerdings sowohl im positiven wie negativen Sinne. Für letzteres liefern Redner wie Sirpa Pietikäinen und Sylvie Goulard in der ersten Stunde schöne Beispiele: Das Parlament habe eine neue, gewichtige Rolle. Das Parlament müsse diese Verantwortung annehmen, geschlossen. Das Parlament müsse den Bürgern seine wirtschaftspolitische Entschlusskraft demonstrieren. Irgendwann wird der Wechsel aus eigenem Schulterklopfen und „jetzt müssen wir aber wirklich mit der Arbeit begonnen“ lächerlich.
Mit Philippe Lamberts‘ Wortmeldung ändert sich der Ton: er tritt für ein „Zuckerbrot-Instrument“ als Ergänzung zur Peitsche gegenüber den Mitgliedstaaten ein – und auf einmal ist Leben im Saal. Ein Vertreter der Christdemokraten holt während des Beitrages Meinungen von Kollegen ein und appelliert an die Vorsitzende, Lamberts solle die Zeit nicht überschreiten; der erwidert aufgebracht, er sei gleich zwei mal Schattenmann für Kollegen und könne ergo auch noch gute 12 Minuten reden. Sowohl stimmlich wie inhaltlich bemüht sich Sven, die Debatte zu beruhigen: man müsse Verständnis beweisen indem man Mechanismen schaffe, die den Mitgliedsstaaten ein Spiel mit der Deflation über Staatsanleihen blockiere. Noch besonnener und klarer melden sich anschließend ältere Semester wie Thomas Händel und Nikolas Chountis in ihrer Landessprache (Bayrisch bzw. Griechisch) zu Wort: der Stabilitätspakt dürfe nicht immer drakonischer ausgelegt werden, das sei noch immer zu Lasten des Sozialstaats gegangen; diesbezüglich solle man nicht alle Inhalte der Kommission einfach mittragen. Überraschende Unterstützung bekommen sie von rechts: die christdemokratische Vertreterin Astrid Lulling appelliert an den Ausschuss, nicht mehr permanent und gewollt die neu gewonnenen Muskeln spielen zu lassen – sondern einen klaren, gemeinsamen Nenner bezüglich automatischer Sanktionen auszumachen. Wir hoffen hinten, dass ihre Worte der Entscheidungsfindung dienen, denn offensichtlich ist hier tatsächlich fraktions-übergreifende, sinnvolle Debatte machbar – und begeben uns zum nächsten Termin.
[Trotz des engagierten Tonfalles sind nicht alle Teilnehmer vollkommen bei der Sache…]
Zunächst treffen wir Gerald Häfner – der ist zwar gesundheitlich angeschlagen, aber in seinem Vorhaben, die Europäische Bürgerinitiative vom EP aus möglichst effizient und bürgernah zu gestalten, offenbar nicht zu stoppen. Jedenfalls berichtet er umfassend davon, wie er, gegen den Druck der großen, nationalen Fraktionen auf ihre EP-Parteifreunde und durch ein Schlupfloch in der Geschäftsordnung doch noch zum Bericherstatter diesbezüglich wurde. Von dieser Position aus versucht er nun, die Verwässerungsversuche der nationalen Regierungen zu verhindern. Seine Prognose ist nüchtern: die ursprünglich konstruktive Zusammenarbeit in der Berichterstatter-Gruppe leide unter dem Druck, die Zeit bis zum finalen Entschluss raßt, zu wenige MEPler stünden voll dahinter – und das, obwohl sie die EBI durchaus selbst nutzen könnten.
Ausblick zum Einblick
Ein ausgedehntes Abendessen mit Sven später sitzen wir am nächsten Morgen Barbara Lochbihler gegenüber – deren Ausführung zur Arbeit im Menschenrechtsausschuss fällt allerdings sehr knapp aus; informativ aber, immerhin. Im Anschluss bleibt dafür viel Zeit, sich mit Svens Referenten auszutauschen. Der Abschluss stimmt uns positiv: sowohl Florian als auch Malte bringen nicht nur Attac-Erfahrung, sondern fundiertes, akademisches Wissen zu Europäischer Gesetzgebung und Wirtschaftspolitik mit. Das werden sie benötigen, denn Sven ist sich in der Abschlussrunde sicher: man habe sehr wohl aus der Krise gelernt – aber da Deutschland bezüglich der Wirtschaftsintegration jüngst gerade einmal die durchschnittliche Bereitschaft der Mitgliedsstaaten erreicht habe, müsse sich im nächsten Jahr zeigen, ob es schnell genug gewesen sei. Da wird gemeinsam ausgeübter Druck nötig sein –
von parlamentarischer wie zivil-gesellschaftlicher Seite.